Zeit der Zauberer by Wolfram Eilenberger
Autor:Wolfram Eilenberger
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Philosophie, Deutschland, deutsche Denker, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassierer, deutsche Sprache, Zweiter Weltkrieg, Zwanziger Jahre, Hamburg, Davoz, Capri, Nationalsozialismus, Geistesgeschichte, Antisemitismus, Philisophenstreit, Denken
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2018-08-15T00:00:00+00:00
Aufbrüche
Die Wirkungen dieser Beziehung für Benjamins gesamtes Weltverhältnis sollten nicht unterschätzt werden. Er selbst spricht mehrfach davon, wie verwandelt zu sein. Seit seinem jungen Erwachsenenalter war er – initiiert von einer frühen Paris-Reise – regelmäßiger Bordellgänger. Die Ehe mit Dora ist seit Jahren eine geschwisterlich geführte. Die Schwärmerei für Jula Cohn blieb unerwidert und unerfüllt. Es ist deshalb nicht zu viel gesagt, dass die Beziehung mit Lacis – einer Frau, die er körperlich extrem anziehend findet und auch intellektuell hochschätzt – für Benjamin ein erotisches Erwachen, geradezu eine sinnliche Initiation bedeutet: eine im vollen Sinne erfüllte Liebe. Natürlich eröffnen die Gespräche mit der überzeugten Kommunistin und Aktivistin auch geistig neue Horizonte und Perspektiven: Lacis’ Verhältnis zu Theorie und Praxis, Kunst und Politik, Engagement und Analyse ist dem Benjamins bis dato geradezu entgegengesetzt. Auch vermag die russische Aktivistin durchaus nicht zu begreifen, wie man sich inmitten eines sich revolutionär erhebenden Europas ausgerechnet mit dem deutschen Barocktheater des 17. Jahrhunderts beschäftigen kann. Für sie ein Paradebeispiel eben jenes bourgeoisen Eskapismus, den Benjamin seiner Zunft anlässlich des Kongresses in Neapel vorwarf. Mit Lacis bricht der Kommunismus als praktisch relevante Theoriealternative in Benjamins Denken ein. Er wird für den Rest seines Lebens daran arbeiten, diesen Einbruch geistig zu bewältigen. Vergeblich, übrigens.
Schon bald sieht man die beiden Fremden mit Kind regelmäßig gemeinsam über die Feldwege der Insel wandern, scherzend und diskutierend, an Gesten entschiedener Zuneigung dürfte es ebenfalls nicht gefehlt haben. Immer häufiger werden auch die Ausflüge in jene Stadt am anderen Ende der Bucht, die auf beide, Benjamin wie Lacis, eine geradezu hypnotische Anziehungskraft ausübt: Neapel. Doch wo Lacis im emotionalen Überschuss des dortigen Alltagslebens vor allem revolutionäres Potential erkennt, sieht Benjamin erste und urwüchsige Symbolmächte am Werk. Wo Lacis in den gewitzten Rollenspielen auf der Piazza ein mehrbühniges Avantgardegeschehen erblickt, findet Benjamin das allegorische Mysterienspiel des Barock zur freien Aufführung gebracht. Wo Lacis schließlich konkrete Materialität und Improvisationskunst analysiert, sieht Benjamin ewige Ideenkonstellationen momenthaft verkörpert. Wie es unter frisch Verliebten zu sein pflegt, sind beide nur allzu begierig, die Welt auch mit den Augen des anderen zu sehen, die Perspektive des anderen ins Zentrum des eigenen Selbst aufzunehmen.
Als Zeugnis dieses Geschehens liegt aus dem Sommer 1924 das von beiden gemeinsam geschriebene Stadtbild »Neapel«[160] vor: als einzigartiges Dokument dessen, was geschieht, wenn sich die Weltanschauungen einer handfesten Kulturpraktikerin des Avantgardekommunismus mit den überzeitlichen Konstellationsanalysen eines idealistischen Ideenesoterikers füreinander öffnen. So dass es fast nur konsequent erscheint, dass in diesem Text das Phänomen der Porosität[161] als einer produktiven Brüchigkeit, die einstmals feste Dualismen überwindet, zum Leitbegriff der geistigen Stadterschließung wird. Porosität als Prinzip des wahren, eben neapolitanischen Lebens:
In den Felsengrund selbst, wo er das Ufer erreicht, hat man Höhlen geschlagen. Wie auf Eremitenbildern des Trecento zeigt sich hier und da in den Felsen eine Türe. Steht sie offen, so blickt man in große Keller, die Schlafstelle und Warenlager zugleich sind. Weiterhin leiten Stufen zum Meer, in Fischerkneipen, die man in natürlichen Grotten eingerichtet hat. Trübes Licht und dünne Musik dringt abends von dort nach oben.
Porös wie dieses Gestein ist die Architektur.
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